Biografiearbeit – ein Weg zu sich selbst
Lauf nicht, geh langsam:
Du musst nur auf dich zugehen!
Geh langsam, lauf nicht,
denn das Kind deines Ich,
das ewig neugeborene,
kann dir nicht folgen!
Juan Ramón Jiménez, „Herz, stirb oder singe“, Diogenes Verlag 1977
„So soll es auf keinen Fall weitergehen!“
„Ich weiß einfach nicht genau, was ich will.“
„Ich möchte mit meiner Vergangenheit Frieden schließen.“
„Jetzt bin ich schon über vierzig und habe immer noch nicht das Gefühl,
in meinem Leben angekommen zu sein.“
„Wie soll es weitergehen?“
Das sind einige der Fragen und Intentionen, mit denen Menschen zu mir kommen, Ausgangspunkte für die Biografiearbeit.
Wenn ich gefragt werde: „was machst du eigentlich als Biografieberaterin?“, dann ist eine von vielen möglichen Antworten: Ich begleite die Menschen, die zu mir kommen, auf dem Weg zu sich selbst. Denn nur sie selbst können sich eine echte Antwort auf ihre Frage geben. Im Sinne des Gedichtes von Jimenez könnte man sagen:
Biografiearbeit ist ein Zugehen auf sich selbst.
Wie kann man auf sich selbst zugehen?
Zunächst ist es vielleicht einfacher zu fragen: wie kann ich auf einen anderen Menschen zugehen? Ich brauche zu allererst ein liebevolles Interesse, nur dann kann ich mit ihm in ein Gespräch kommen, die richtigen Fragen stellen, mich ihm annähern und ihn mehr und mehr verstehen. Und je mehr ich ihn verstehe, desto mehr kann ich ihn lieb gewinnen. Der japanische Philosoph Kitaro Nishida schreibt: „Wissen und Liebe sind die gleiche menschliche Aktivi-tät; um ein Ding zu kennen, müssen wir es lieben, um ein Ding lieben zu können, müssen wir es ken-nen.“ Und: Liebe „ist die reifste Form von Wissen um die Dinge.“ (Zitiert nach: C. Otto Scharmer, Theorie U. Von der Zukunft her führen, Carl Auer Verlag 2009, S. 117)
Zu einem selbst führen die gleichen Schritte wie zueinem anderen Menschen. Vorurteile und Wer-tungen führen nicht zu Verständnis, allein mit liebevollem Interesse kann man andere und sich selbst kennen lernen. Darin sehe ich eine meiner Aufgaben als Biografieberaterin: die Menschen, die ich begleite, darin zu unterstützen, auf sich selbst wie auf einen guten Freund zu schauen und mit diesem ins Gespräch zu kommen. Denn man könnte auch sagen:
Biografiearbeit ist ein Gespräch mit sich selbst.
Nun ist dieses Selbst ja kein statisches, sondern ein sich permanent verwandelndes, entwickelndes. Es ist das, was man in der Vergangenheit geworden ist, das, was man in der Zukunft noch werden will und das, was gegenwärtig in einem lebt. Aus diesem Grund gestalte ich die Biografiearbeit so, dass die Menschen, mit denen ich arbeite, in allen drei Zeiträumen mit sich selbst ins Gespräch kommen können. Also mit dem Selbst, das sie gegenwärtig sind, mit dem Selbst, das sie geworden sind und mit dem Selbst, das sie erst noch werden möchten. Dabei geht es nicht um Selbstoptimierung sondern um Selbstfürsorge.
Wenn man mit der beschriebenen Haltung auf die Anfangsfrage hört und die aktuelle äußere und innere Lebenssituation befragt, kann man dem gegenwärtigen Selbst begegnen.
Wenn man den Lebenslauf betrachtet, kann man die Spuren dieses Selbst lesen lernen und so seine Vergangenheit mehr und mehr verstehen.
Wenn man nach den Träumen und Wünschen fragt, kann man etwas von dem Zukünftigen des Selbst ahnen, oder, mit Jimenez gesprochen, von dem „Kind des Ich, dem ewig neugeborenen“. Auf diese Weise kann man sich selbst in der Biografiearbeit mehr und mehr kennen lernen.
Das ist, wie der Name schon sagt Arbeit, zwar keine körperliche, aber doch eine seelische. In dieser Arbeit entsteht jedoch nicht nur mehr und mehr ein lebendiges Bild des eigenen Selbst, man erlebt sein Selbst auch unmittelbar im Tätig-Sein. Die eigene Konzentrationskraft, die eigenen Gefühle, die eigene Wahrnehmungsfähigkeit, kurz die eigenen Ressourcen, kann man, wenn man Biografiearbeit macht, unmittelbar erfahren. In diesem Sinne kann man ebenfalls sagen:
Biografiearbeit ist Selbsterkenntnis und Selbsterfahrung.
Aus Selbsterkenntnis und Selbsterfahrung können „Steuermannqualitäten“ für das eigene Leben entstehen (Diese Formulierung verdanke ich einer Frau, mit der ich arbeiten durfte). Denn darum geht es in der Biografiearbeit immer auch: die Sehnsucht, sein Leben so leben und gestalten zu können, wie es einem entspricht.
Dafür ist es wichtig, dass die Erkenntnisse und Erfahrungen aus der Biografiearbeit für die Gestaltung des Lebens fruchtbar werden können. Aus diesem Grund lege ich großen Wert darauf, mit den Menschen, mit denen ich arbeite, konkrete nächste Schritte zu erarbeiten und machbare Übungen für das tägliche Leben zu entwickeln. So richtet sich Biografiearbeit immer auch auf die Welt. Deshalb gilt auch:
Biografiearbeit ist ein Weg in die Welt.